Industrielle Lastflexibilität | Der Beitrag der Industrie zur Netzstabilität braucht verlässliche Regeln

von Svetlina Ilieva‑König, Expert Energie, Public Affairs bei der TRIMET

Der Winter stellt die Energieversorgung in Deutschland vor große Herausforderungen

Um die Versorgung zu gewährleisten und die Netzstabilität zu sichern, bleiben die letzten drei Kernkraftwerke am Netz, und Braunkohlekraftwerke werden in den Markt zurückgeholt. Die Übertragungsnetzbetreiber haben Notfallmaßnahmen aufgestellt, die verfügbaren Instrumente überprüft und die Reserven erweitert. Um Brownouts und Blackouts zu vermeiden, werden, so der Eindruck, alle denkbaren Maßnahmen genutzt, sämtliche Potenziale mobilisiert. Doch der Eindruck täuscht.

Ein bewährtes Instrument bleibt ungenutzt: die Regelung für den Einsatz industrieller Lasten, die ihre Stromabnahme in weniger als einer Sekunde oder innerhalb von 15 Minuten komplett vom Netz nehmen können. Von 2014 bis Mitte 2022 haben die Übertragungsnetzbetreiber diese Lastflexibilität 452 Mal in Anspruch genommen. 

Geregelt war das Instrument in der „Verordnung über Vereinbarungen zu abschaltbaren Lasten“. Sie ist zum 1. Juli 2022 außer Kraft getreten. Eine Verlängerung kam nicht zustande, weil die Verordnung, so heißt es, dem EU-Beihilferecht wiederspreche. Bemerkenswert ist, dass es in Frankreich und Italien ähnliche Regelungen gibt, die nach wie vor gelten. Konflikte mit EU-Recht bestehen dort offenbar nicht. Beide Länder bauten das Instrument aus, nachdem am 8. Januar 2021 ein drastischer Frequenzabfall auf 49,74 Hertz in Westeuropa unter anderem mit 1,7 Gigawatt an abschaltbaren Lasten in Italien und Frankeich abgefangen worden war. Für den Fall eines weiteren Frequenzabfalls im europäischen Verbundnetz standen damals in Deutschland zusätzliche abschaltbaren Lasten im Umfang von fast 1,5 Gigawatt bereit.

Anders als Frankreich und Italien schlug Deutschland den Weg in die entgegengesetzte Richtung ein. Es verzichtete darauf, die bestehende Verordnung zu abschaltbaren Lasten rechtzeitig zu reformieren oder eine Neuregelung zu schaffen. Ein Ersatzinstrument soll jetzt die Lücke schließen. Dieses „Systemdienstleistungsprodukt im Echtzeitbereich aus abschaltbaren Lasten“ (SEAL) soll als freiwillige Selbstverpflichtung (FSV) der Übertragungsnetzbetreiber gefasst werden. Die FSV SEAL dürfte allerdings nicht vor Juni 2023 abgestimmt sein. Für Industrieunternehmen bedeutet das noch weniger Verlässlichkeit in einer ohnehin herausfordernden Situation. Sie müssen mit ungeregelten Stromabschaltungen rechnen, die als Abschaltkaskade gemäß §13.2 Energiewirtschaftsgesetz durchgeführt werden. Notfallmaßnahmen dieser Art verursachen den Unternehmen hohe Kosten und können darüber hinaus zu Schäden an Produktionsanlagen führen.

Es liegt im öffentlichen Interesse, diese ungeregelten Abschaltungen zu vermeiden.

Eine künftige langfristige Regelung sollte marktnah ausgestaltet werden, um mehr Anlagenbetreiber zu motivieren, industrielle Flexibilitäten anzubieten. So könnte sich beispielsweise der Arbeitspreis am Preis des Intradayhandels unmittelbar im Zeitraum der Systemgefährdung orientieren. Damit wäre sichergestellt, dass die notwendige Energie zur fairen Marktkonditionen beschafft wird. Eine zukunftsfähige, stabile Regelung muss den Anbietern von industriellen Flexibilitäten außerdem Perspektive und Planungssicherheit bieten. Dazu ist es notwendig, die ausgeschriebene Menge angemessen zu dimensionieren. Denn nicht nur in diesem Winter, sondern auch nach der endgültigen Stilllegung von Kern- und Kohlekraftwerken wird die auf erneuerbare Energiequellen basierende Stromversorgung auf industrielle Lastflexibilitäten nicht verzichten können.

Autorin: Svetlina Ilieva‑König, Expert Energie, Public Affairs bei der TRIMET Aluminium SE

Der Beitrag ist Anfang 2023 im Energate Messenger erschienen.